Heilwig | Schülerzeitung
Ein verhängnisvolles Spiel
Ein verhängnisvolles Spiel

Ein verhängnisvolles Spiel

Hier war ich nun, in der Stadt, die ich nie wieder besuchen wollte. Hier war ich nun, auf der Beerdigung eines Mannes, den ich kaum kannte. Und obwohl sich die restlichen Gäste alte Freunde nannten, hatte ich das Gefühl, dass ich den Verstorbenen am besten kannte. Denn Arthur Clampitt hatte all die Jahre, die ich ihm gegenüber gewohnt hatte, nicht einmal Besuch gehabt. Nie, außer dieses eine verhängnisvolle Mal im Sommer 1959.
Ich verließ die Beerdigung vorzeitig, setzte mich in mein Auto und ließ den Motor an. Gedankenverloren kurvte ich durch die Stadt und steuerte doch unbewusst auf ein ganz bestimmtes Ziel zu: die Straße, die mit so vielen schmerzlichen Erinnerungen gefüllt war. Ich hielt vor dem Haus, das früher meiner Mutter gehört hatte. Das Haus mit dem prächtigen Apfelbaum im Garten: Hier hatte ich sie zum ersten Mal gesehen.

Es war Anfang der Sommerferien und ich hatte Streit mit meiner Mutter gehabt, da meine Versetzung gefährdet war. Ich war gewiss kein einfaches Kind. Ich machte oft Ärger und hatte keine Freunde. An jenem Tag versuchte sie, wie so oft, mir klarzumachen, wie wichtig es sei, Freunde zu haben, mit denen ich mich austauschen könnte. Doch ich widersprach ihr. Die Unterhaltung schaukelte sich hoch, bis ich mein Buch nahm, wütend in den Garten stürmte und mich in den Apfelbaum setzte.

Dort sah ich sie nun: Eine kleine Gestalt saß auf Mr. Clampitts Zaun und aß Kirschen. Ihr Blick ruhte auf mir. Während ich überlegte, wer diese Gestalt war, schob sie sich eine Kirsche nach der anderen in den Mund. „Na? Was starrst du denn so?“ rief sie mit vollem Mund zu mir herüber. Ich wurde wütend. Sie war doch diejenige, die mich anstarrte. Ich dagegen wollte nur in Ruhe lesen. „Wer bist du?“ fragte ich, anstatt ihr zu antworten. „Ich bin Nancy Clampitt, Arthurs Nichte.“

Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass mit „Arthur“ Mr. Clampitt gemeint war. Sie war Mr. Clampitts Nichte! Mr. Clampitt hatte Familie! Ich wusste nicht warum, doch ich hatte mir nie vorstellen können, dass Mr. Clampitt auch nur eine Kindheit gehabt hatte. „Na schön, Nancy Clampitt, ich muss dich bitten, mich nun nicht weiter zu stören, da ich beschäftigt bin.“ „Ach ja? Was machst du denn so Wichtiges?“ „Ich lese“, sagte ich wichtigtuerisch. „Verstehe“, rief sie. Für einen Moment war sie verstummt und schien zu grübeln, dann rief sie: „Ich lese nicht“. „Das sehe ich“, sagte ich unbeeindruckt. „Nein“, rief sie, „Ich meine: Ich lese nie.“ Das überraschte mich nicht. Würde sie öfter lesen, hätte sie womöglich das nötige Feingefühl, mich in Ruhe zu lassen. „Und warum liest du nicht?“ „Ich finde es stumpfsinnig. Man wandelt in einer Welt umher, die ein anderer für einen geschrieben hat, anstatt sich selbst darum zu bemühen, eine eigene Welt zu erschaffen.“ Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte. 

Es sollten noch ein paar Tage vergehen, bis ich sie wiedersah. Ich trieb mich mal wieder im Wald herum. Dort war sie, abseits der Lichtung und versuchte unbeholfen, auf einen Baum zu klettern. Ich blieb stehen. „Was machst du denn da?“, fragte ich. Sie drehte ihren Kopf zu mir herum, antwortete aber nicht. Was hatte sie denn nun schon wieder? Ich lief zu ihr, um zu sehen, weshalb sie es nicht fertigbrachte, auf diesen Baum zu klettern. Nun sah ich, dass sie vorsichtig etwas weißes mit ihrer Hand umschloss. „Das ist ein Rabenei“, klärte sie mich auf, bevor ich fragte. „Es muss wohl aus dem Nest dort oben gefallen sein“, fuhr sie fort. Ich schaute hinauf. Der Plymouth Forest beherbergte eigentlich kaum Tiere. Man vermutete, dass es an dem ekelhaften, grünen Nebel lag, der bei Nordwind von den Industrien im südlichen Teil Sussex hinaufgeweht kam und manchmal tagelang über Plymouth hing. Er verfing sich in den toten, spitzen Ästen, die nie eine Blätterpracht trugen, und blieb dort manchmal noch Wochen, nachdem er aus der Stadt abgezogen war. Der Wald wurde deshalb auch Dead Forest genannt und die meisten Einwohner mieden ihn. Ich war die Ausnahme.

Dieser verlassene Wald hatte etwas Einsames und Geisterhaftes an sich, dass es mich immer wieder zu ihm hinzog. Aber Vögel konnte man hier wahrlich nicht finden. Doch da war es: Ein echtes Vogelnest mit dazugehörigem Ei. „Und? Was ist nun? Hilfst du mir?“ Der Klang ihrer ungeduldigen Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Hm? Ach so, ja. “Wie wäre es, wenn ich bis zum Nest klettere und du mir das Ei dann von dort, wo du stehst, gibst?“ fragte ich ein wenig verunsichert. Sie lächelte zufrieden. „Na, wie ich sehe, bist du doch zu etwas zu gebrauchen.“ „Ist dir langweilig oder startest du öfter Raben-Rettungsaktionen?“ wollte ich wissen. „Kennst du König Artus?“ Was hatte das jetzt damit zu tun? Ich nickte. „In der Sage wurde er in einen Raben verwandelt.“ „Und jetzt glaubst du, dass es sich bei jedem Raben, den du siehst, um König Artus handelt?“ hakte ich nach. „Nicht bei jedem“, sagte sie.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass mein Fenster geöffnet war und eine Taube auf meiner Fensterbank saß. Ich starrte sie an. Sie starrte zurück. Ihre Augen waren rot und seltsam hervorgequollen. Und wie sie da so saß, hatte sie etwas Verrücktes, gar Gefährliches an sich. Die Taube ließ ein angriffslustiges Gurren aus ihrer Kehle aufsteigen und ich beschloss, sie aus meinem Zimmer zu vertreiben, doch als ich sie mit der Hand durch das geöffnete Fenster scheuchen wollte, pickte sie kräftig zu. Das Blut lief warm meinen Unterarm hinunter und tropfte von meinem Ellenbogen. Die Taube gurrte erneut und weitere Tauben setzten sich neben sie auf meine Fensterbank. Sie alle gurrten wild durcheinander und immer mehr kamen dazu. Bis ich mein Zimmer fluchtartig verließ. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis, Nancy von den Tauben zu erzählen. Als ich vor die Tür trat, musste ich voller Schrecken bemerken, dass Tauben auf jedem erdenklichen Ort saßen. Alle Taubenköpfe drehten sich zu mir herum. Einen kurzen Moment passierte nichts, dann schossen die Tauben auf mich zu. Ich rannte, so schnell ich konnte, über die Straße und klingelte Sturm bei den Clampitts. Mr. Clampitt öffnete mir und ließ mich sofort rein. „Was ist denn passiert?“, fragte er in seiner gutmütigen Stimme. „Die Vögel, sie haben mich attackiert“, japste ich. „Aber vor Vögeln muss man doch wirklich keine Angst haben. Die tun dir doch nichts“, versuchte er, mich zu beruhigen. Wortlos zeigte ich ihm meine Hand, auf der noch immer verkrustetes Blut klebte. Er zog die Brauen hoch und erklärte, dass er die Wunde desinfizieren müsse und dass Nancy in der Küche war. Als ich die Küche betrat, sah ich Nancy am Tisch sitzend und Porridge essen. „Hast du schon die Tauben draußen gesehen?“ fragte sie, ohne mich anzuschauen. Sollte das ein Witz sein?! Bevor ich antworten konnte, kam Mr. Clampitt zurück und bat mich genau zu berichten, was passiert war, während er die Wunde desinfizierte. Auch Nancy lauschte gebannt meiner Erzählung und als ich geendet hatte, fragte sie ihren Onkel, was das bedeuten könnte. Mr. Clampitt antwortete nicht – das schien wohl in der Familie zu liegen –, sondern schaute nur aus dem Fenster und beobachtete die Tauben.

Jahre später hatte ich gedacht, die Geschichte hätte einen völlig anderen Lauf genommen, wenn ich an jenem Tag nicht zu den Clampitts gelaufen wäre, doch wie ich mich hier an alles erinnerte, wurde mir klar, dass bereits Nancys und mein erstes Treffen die Kettenreaktion an falschen Entscheidungen ausgelöst hatte, die dann zu diesem verhängnisvollen Ende geführt hatten.

Als ich wieder zurück nach Hause ging, erwartete mich meine Mutter bereits. „Darf ich fragen, wo der junge Herr war?“ fragte sie in ihrem leicht genervten Tonfall. „Bei den Clampitts“, hatte ich geantwortet. „Den Clampitts?“ fragte sie. „Ja, Mr. Clampitt hat Besuch von seiner Nichte Nancy.“ – „Nichte hin oder her, ich möchte nicht, dass du dich bei Mr. Clampitt sehen lässt. Die Nachbarn werden reden.“  Mr. Clampitt wurde aus einem Grund, den ich wegen meines damaligen Alters nicht verstehen konnte, von den Nachbarn verachtet. Arthur, wie ich ihn mittlerweile nannte, gab nie viel auf den Tratsch der Nachbarn. Wenn er wieder einmal mit der Nase darauf gestoßen wurde, dass die Nachbarn ihm mieden, machte es ihn weder wütend noch traurig. Er lächelte nur dieses wissende Lächeln. Er war weiser als die Nachbarn. In den späteren Jahren sollte ich dieses Lächeln noch oft zu Gesicht bekommen. 

In den nächsten Tagen passierten noch weitere grausige Dinge. Mrs. Coulters Haus brannte ab, die Katze der Milfords verschwand für Tage und wurde dann einige Straßen weiter aufgespießt an einem Zaun gefunden. Weitere Ereignisse gipfelten schließlich darin, dass sich im Dead Forest ein Mann erhängte.  Zu allem Überfluss legte sich auch noch der grüne Nebel über die Stadt. Nancy und ich verbrachten die meiste Zeit miteinander. Wir verbrachten viele Tage drinnen, da der Nebel in den Augen und in der Kehle wehtat. Nancy liebte es, Geschichten von irgendwelchen Horrorwesen zu erzählen und früher rannten wir oft im Unterholz umher und spielten, dass wir diese Wesen jagten. Doch seitdem der Nebel wieder in die Stadt eingezogen war, schien es ihr neues Lieblingsthema zu sein. Sie meinte, dass der Nebel ein Omen des Todes sei und dass die Tiere klug genug waren, Plymouth zu verlassen. Nur wir Menschen waren zu blind, das Offensichtliche einzusehen. Nancy bezeichnete die Menschen oft als blind. Sie konnten zwar sehen, schauten meistens aber nicht genau hin. Und sie waren oft nicht imstande, die logischen und naheliegenden Zusammenhänge zu erkennen. Die Tauben waren auch blind, denn sie zogen nicht fort. Ihre Angriffslust hatte sich aber schon nach den ersten paar Tagen gelegt.

Eines Abends saß ich in Nancys Zimmer und Nancy stand am Fenster und schaute gedankenverloren in den Nebel. Nach einer Weile sagte sie: „Ich glaube, wir haben etwas Falsches getan.“ Ich blickte auf. Ich hatte in einem ihrer Bücher gelesen, die sie nie angerührt hatte. „Erinnerst du dich noch an das Ei, dass wir damals zurück in sein Nest gelegt haben?“ fragte sie. Es lag schon ein paar Wochen zurück, aber ich erinnerte mich noch klar und deutlich. „Ich glaube, wir hätten das nicht tun dürfen.“ „Wieso nicht?“ fragte ich. „Ich glaube, ich lag falsch. Ich habe mal gehört, das die Welt früher von Gut und Böse besiedelt wurde. Das Böse quälte das Gute. Das machte die Götter wütend und sie verbannten das Böse an einen Ort, den die meisten Menschen heute Hölle nennen. Es dachte, man hätte ihm Unrecht getan, und seither versuchte es vergeblich, wieder auf die Erde zu kommen. Ich glaube, in diesem Ei hat sich das Böse befunden. Auf dem Boden wäre es wahrscheinlich von einem morschen Ast zertrümmert worden, doch als wir es wieder zurück ins Nest gelegt hatten, konnte es ungestört fertigbrüten und wieder in die Welt gelangen.“ Ich schaute Nancy an. „Glaubst du wirklich?“, fragte ich nicht wirklich überzeugt. Sie schaute mir fest in die Augen. „Denk doch mal nach: Erst das Haus von Mrs. Colter, dann die Katze der Milfords und zuletzt auch noch ein Suizid im Wald. Und dann sind da auch noch die Tauben, die nicht einmal vom Nebel verjagt werden können.“ Ich überlegte kurz. „Das können auch unglückliche Zufälle sein.“ „Pah, das glaubst du doch selber nicht“, erwiderte sie bitter. „Was ist eigentlich das Ziel des Bösen?“ wollte ich wissen. „Ich weiß es nicht, aber ich glaube, es will uns Angst machen, denn wenn man keine Angst vor dem Bösen hat, kann es nicht mehr überleben.“ Nancy war ein wenig älter als ich, doch ich fand schon damals, dass sie für ihr Alter ungewöhnlich weise war. „Und wie kriegt es das hin?“ erkundigte ich mich weiter. „Gut, dass du fragst“, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich denke oft darüber nach. Ich glaube, es gibt drei Arten von Angst: Die erste Art ist die Angst vor dem Unbekannten. Wenn man ahnt, dass etwas Schlimmes passieren wird, man aber noch nicht genau weiß, was. Die zweite Art ist die Angst vor dem Sichtbaren, also einem konkreten Monster. Die dritte Art sind Schock und Ekel. Denk doch mal an all die Horrorfilme. Ich glaube, wir befinden uns noch in der ersten Art, da die Geschehnisse etwas Unheilvolles verheißen, wir aber nicht wissen, was.  Das Böse ist aber auch schon teilweise in die zweite Art übergegangen, als du von den Vögeln angegriffen wurdest. Kannst du mir noch folgen?“Ich nickte „Wir wissen aber immer noch nicht, was wir tun sollen.“ sagte ich in einem Tonfall, der ungewollt anklagend klang. „Gut, dann lass uns runtergehen und meinem Onkel alles erzählen.“ Wir gingen also hinunter und Nancy erläuterte Arthur ihre Theorie. Anders als andere Erwachsene hörte er sich alles geduldig an. Er nahm uns ernst, was ich ihm damals hoch anrechnete. Heute konnte ich sein Verhalten nicht mehr verstehen. Arthur schlug vor, dass wir die Monster zurück in die Eierschale locken und somit wieder verbannen.

An diesem Abend konnte ich nicht gut schlafen. Es regnete und ich hatte mein Fenster offen. Ich träumte, dass der warme Regen Blutstropfen waren, die mir ins Gesicht spritzen. Ich träumte, dass irgendjemand vor mir zerfetzt wurde, doch ich konnte nicht sehen, wer. Ich hörte Schreie und ein schreckliches Grölen. Ich träumte, dass das Blut der Person dampfend auf die Straße tropfte. Ich träumte, dass ich durch das Meer aus warmem Blut auf die Person zu ging, um zu sehen, wer das war, doch dann wachte ich auf. Und schon beim Aufwachen wusste ich, dass heute etwas Schlimmes passieren würde. Als ich in der Küche ankam, eröffnete meine Mutter mir, dass sie in die Stadt fahren wollte. Kurz, nachdem meine Mutter gegangen war, klingelte Nancy. „Ich schätze, du kennst den Plan für heute?“, fragte sie. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Wir werden das Böse zurück in die Eierschale verbannen“, sagte sie entschlossen. „Und wie wollen wir das Böse in die Eierschale locken?“ „Ich glaube, sobald wir den Wald betreten, wird das Böse ganz von alleine auf uns zu kommen. Wir müssen uns dann als eine Art Köder vor die Schale stellen und im richtigen Moment aufspringen.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das, was sie sagte, als Metapher oder wörtlich verstehen sollte. Alles in allem war mir das Ganze sowieso nicht geheuer. Doch wir machten uns trotzdem auf den Weg in den Wald. Kurz bevor wir in den Nebel traten, hielt mich Nancy am Arm fest. „Falls alles schiefläuft, gibt es ein Versteck im Wald, wenn man von dem Baum, bei dem das Ei liegt, ungefähr zehn Meter von der Lichtung weg geht. Eine Höhle.“ Ich nickte.

Dann traten wir in den Nebel. Zuerst dachte ich, nichts würde passieren, doch dann wurde Nancy auf einmal von meinem Arm losgerissen. Der Nebel war so dicht, dass ich nicht sehen konnte, wo sie war. „Nancy? Alles in Ordnung?“ rief ich. Keine Antwort. „Nancy!“, schrie ich diesmal lauter. „Alles Gut!“, erklang Nancys Stimme. „Ich bin nur ausgerutscht.“ Kurz darauf sah ich eine schemenhafte Gestalt, die sich auf mich zu bewegte: Es war Nancy. Ich wartete auf sie, doch als sie näher kam, erkannte ich voller Schrecken: Das war nicht Nancy! Die Gestalt war zwar so gekleidet wie sie, doch dort, wo ihre Augen hätte sein müssen, waren einfach nur zwei schwarze Flecken, und ihr Mund war kein Mund, sondern eine Fratze, die aufgerissen aussah und aus der zwei überdimensionale Fangzähne hervorragten. Ich rannte, so schnell ich konnte. Der Nebel brannte in meiner Kehle und in meinen Augen. Es war unmöglich, tief Luft zu holen. Ich schwitzte am ganzen Leib. Noch nie in meinem Leben war ich so verzweifelt. Nach einigen Minuten wagte ich, mich umzudrehen. Die Gestalt war nicht mehr hinter mir. Ich versuchte ein wenig zur Ruhe zu kommen, da bemerkte ich, dass von den Bäumen Blut tropfte. War es Nancys Blut? Ich wollte nach ihr rufen, doch ich traute mich nicht. Ich versuchte einfach, den Baum mit der Eierschale zu finden.

„Verdammt, verdammt, verdammt…“ flüsterte ich immer wieder vor mich hin. Wie konnte ich mich bloß auf so etwas einlassen. Die langen Finger der Bäume schnitten mir das Gesicht auf, doch das alles interessierte mich verdammt nochmal nicht. Ich wollte nur diesen dämlichen Baum finden und diese Horrorgestalten zurück dort hinschicken, wo sie hingehören. Und wenn es möglich war, das Ganze auch noch überleben. Ich rannte in die Richtung, in der ich den Baum vermutete. Mein Herz trommelte gegen sein Gefängnis aus Rippen. Ich musste an das denken, was Nancy gesagt hatte. Sie hatte das Wort Köder benutzt. Mir wurde klar, dass ich sie erst seit wenigen Wochen kannte. Wieso vertraute ich ihr? Ein düsterer Gedanke, der wohl schon eine ganze Weile in meinem Unterbewusstsein gebrütet hatte, schob sich nun in mein Bewusstsein. Was zur Hölle gab mir den Anlass, Nancy zu vertrauen? Wieso tat ich seit Wochen das, was sie mir sagte, ohne große Widerrede? Was, wenn sie nur wollte, dass ich mich als Köder vor dem Ei platzierte? Als ich am Baum ankam, wusste ich, dass es längst zu spät dafür war, zu entscheiden, ob ich Nancy vertraue oder nicht. Also was solls? Ich kletterte hoch. Das Ei lag im Nest, doch es war zerbrochen. Ich hörte die Tauben, sie flogen auf mich zu. Ich wollte warten, bis sie nah genug waren und mich dann zur Seite ducken, damit sie in die Eierschale flogen. Sie kamen immer näher. Hunderte, nein Tausende. Es war zu spät. Die Tauben waren schneller als ich dachte. Ich konnte mich nicht ducken. Sie flogen in mich hinein. Ein stechender Schmerz erfüllte meine Brust. Ich versuchte verzweifelt Luft zu holen. Es war schrecklich laut. Ich hatte keinen Schimmer, was diesen grässlichen Lärm verursachte.

Auf einmal war es still. Ich musste meine Augen geschlossen haben. Als ich sie wieder öffnete, befand ich mich in einem Garten. Alles war in Nebel gehüllt. Nicht jener ekelhafte Nebel, den ich aus dem Dead Forest kannte. Dieser Nebel hatte etwas elegantes an sich. Es sah so aus, als hätte jemand Bäume und Statuen zusammenhanglos auf eine weiße Leinwand gepinselt. Ich ging etwas weiter, da erblickte ich ein Skelett, das einen Zylinder trug, an einem runden Tisch saß und Tee trank. „Ich habe dich schon erwartet.“ Seine Stimme war eine melodische Gelehrtenstimme. „Setz dich.“ „W…w…wer sind sie?“, stammelte ich. „Das wissen wir doch beide“, sagte es. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es hatte recht. Ich wusste es. Es war der Tod, der mir hier gegenübersaß und mir Tee anbot. „Du hast zwei Möglichkeiten”, sagte er, noch immer in diesem grausig ruhigen Tonfall. „Entweder du kostest einen Schluck von diesem Tee oder ich werde dir mein Messer hier ins Herz rammen.” Er zeigte mir sein Messer. „Überreden Sie ihre Besucher immer so zu einer Tasse Tee?” Es war eine dumme Angewohnheit von mir, immer Witze zu machen, wenn ich in eine unangenehme Lage geriet. Der Tod zeigte keine Regung. „Soll das heißen, du möchtest keinen Tee?” fragte er schließlich. Ich wollte etwas erwidern, doch da nahm er schon mein Gesicht in seine Skelettfinger. „Es tut nicht weh, das verspreche ich dir”, sagte er auf eine beinahe zärtliche Art, die mich anwiderte. Dann stach er  zu.

Meine Augen flogen auf. Meine Mutter beugte sich über mich. „Ein Glück, Junge, du bist wach!” Sie nahm mich in den Arm. „Was ist passiert?”, wollte ich verdattert wissen. „Du bist von einem Baum im Wald gefallen und hast dir den Arm gebrochen. Der Arzt ist eben erst gegangen. Hast du Schmerzen?” Ich verneinte ihre Frage. Mein kompletter Körper war taub. „Wo ist Nancy?” fragte ich sie. „Ah genau, Mr.Clampitt war vorhin hier. Er meinte, dass du bitte rüberkommen solltest, sobald du dich dazu imstande fühlst.” Als ich vor die Tür trat, sah ich, dass die Steinplatten vor dem Haus mit Regenwürmern übersät waren. Hunderte dieser blinden und hilflosen Geschöpfe. Zart und eklig. Ich klopfte bei den Clampitts und Arthur öffnete mir. „Ah, hallo Bursche. Schön zu sehen, dass es dir besser geht. Komm doch bitte rein.” Ich nahm am Küchentisch platz, wo ich mich zwei Erwachsenen gegenüber fand „Darf ich vorstellen, mein Bruder und seine Ehefrau, Nancys Eltern.” „Guten Tag,”, begrüßte ich sie. Doch in meinem Kopf war nur ein Gedanke. Wo war Nancy? „Hallo”, sagte Mrs. Clampitt. „Weißt du, wo Nancy ist?”, fragte sie mich. Ich war überrascht von dieser Frage. Ich schüttelte den Kopf. Artur schaltete sich ein. „Es ist sehr wichtig, dass du uns die Wahrheit sagst, ganz egal, was sie dir auch erzählt hat.” Ich beteuerte ihnen, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. „Hast du denn eine Idee, wo sie sein könnte? Es kann sein, dass sie in großer Gefahr ist.” Sie fuhr fort, als ich sie verständnislos ansah. „Dir ist mit Sicherheit schon aufgefallen, dass Nancy sehr fantasievoll ist. Genau das ist das Problem. All die Dinge, von denen sie erzählt, existieren für sie wirklich. Sie kann sie wirklich sehen und sie hat große Angst vor ihnen. Hast du schon einmal etwas von Schizophrenie gehört, Junge?” Das Thema war ihr sichtlich unangenehm, aber die Sorge um Ihre Tochter war größer. Ich nickte, da mein Vater ein Psychologe gewesen war. Ich hatte früher in seinen Lehrbüchern gelesen. „Sie wurde vor den Ferien hospitalisiert. Doch irgendwann weigerte sie sich, im Krankenhaus zu bleiben. Sie sagte, es sei grauenhaft dort. Wir dachten, es täte ihr gut, wenn sie mal weg aus London kommen würde und dann haben wir sie kurzerhand zu ihrem Onkel geschickt, um hier die Ferien zu verbringen. Als wir sie heute abholen wollten, weigerte sie sich mitzukommen, dann ist sie weggerannt und wir können sie jetzt nirgendwo mehr finden. Also Junge, wenn du nur die leiseste Idee hast, teile sie uns bitte mit.” Ich schüttelte den Kopf und wurde bald darauf von den Clampitts entlassen.

Als ich wieder draußen auf der Straße stand, versuchte ich alles zu verarbeiten, was ich gerade erfahren hatte. Ich musste an unsere Monsterspiele zurückdenken und kam mir auf einmal wie ein dreckiger Lügner vor. Ich hatte mitgespielt und so getan, als könnte ich die Monster auch sehen, weil ich es für genau das hielt. Ein Spiel. Doch das war es nicht. Es war nie ein Spiel. Ich hatte so getan, als würde ich Nancy verstehen, doch das hatte ich nie getan und werde es auch bis heute nicht tun. Sie hatte sich sicher und normal gefühlt, wenn sie mit mir zusammen war, dabei hatte ich sie die ganze Zeit nur angelogen, die einzige Freundin, die ich je hatte. Ich war das wahre Monster hier. Doch auf einmal wurde mir klar, wo sich Nancy aufhalten musste. Ich überlegte, ob ich rein gehen und den Clampitts Bescheid sagen sollte, doch ich kam zu dem Schluss, dass nach all dem Leid, das ich ihr zugefügt hatte, von dem sie nur noch nichts wusste, ich es ihr wenigstens schuldig war, zuerst ihre Seite der Geschichte zu hören, bevor ich über ihren Kopf entschied. Also machte ich mich auf den Weg zur Höhle. Und ich hatte Recht, sie war da.

Ich hockte mich hin. Sie schaute mich an. für eine Weile sagte keiner von uns beiden etwas. „Wir haben die Monster zurück in ihre Eierschale verbannt”, sagte sie schließlich und mir war zum heulen zumute. Wie würde sie reagieren, wenn sie herausfand, dass ich sie angelogen hatte? „Deine Eltern suchen dich.” „Du hast sie also schon kennen gelernt.” Ihre Stimme klang eisig. Ich konnte sehen, dass sie geweint hatte. „Wenn du hier bist, um mich zurück zu holen, kannst du auch gleich wieder gehen.” Ich schaute sie an. Was sollte ich nur tun? „Ich finde, du solltest mit deinen Eltern reden”, begann ich vorsichtig. „Nein!”, schrie sie. Ich konnte die blanke Verzweiflung in ihren Augen sehen. „Ich weiß, dass sie mich wieder in diese Nervenklinik stecken werden!” Tränen kullerten aus ihren Augen. „Du hast ja keine Ahnung, wie grauenhaft es dort ist. Ich würde lieber sterben, als dorthin zurück zu gehen!” Ich versuchte ihre Arme, mit denen sie wild herum wedelte, zu fassen zu kriegen, um sie zu beruhigen. Sie riss ihre Arme weg. „Du hast die Monster doch auch gesehen!” rief sie verzweifelt. „Das habe ich nicht, das ist ja das Problem.” Das hatte ich eigentlich nicht sagen wollen. Oh Gott, was hatte ich getan? Sie schaute mich an. Dieser Blick war schlimmer als der Blick der Verzweiflung. In diesem Blick lag etwas unergründliches. Sie sah so aus, als wäre irgendetwas in ihr zerbrochen. „Ich dachte, du wärst anders”, flüsterte sie. Es tut mir so leid, Nancy, dachte ich, doch ich konnte es ihr nicht mehr sagen, denn dann tat sie etwas unerwartetes. Sie pflückte ein paar Beeren vom Strauch neben sich und aß sie. Ein paar Herzschläge lang passierte nichts. Ich war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte sie gerade…? Nein, das war unmöglich… das konnte nicht sein, hatte sie etwa tatsächlich? Aber… aber… Mir klang die ganze Zeit im Kopf, was Nancy gesagt hatte: „Ich würde lieber sterben, als dorthin zurück zu kehren.” Ich brach in Schweiß aus. Die Zeit schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Mein Herz in der Brust hinkte. Ein jämmerlicher Muskel, krank und blutig. Dann fiel sie zu Boden. Ich konnte nichts tun, saß einfach nur da. Es dauerte lange, viel zu lange, bis ich endlich zur Besinnung kam. Ich musste Hilfe holen! Ich sprang auf und rannte los, so schnell es meine müden Beine zuließen. Ich rannte an diesem Tag öfter als je zuvor in meinem Leben. Mein gebrochener Arm fing langsam an höllisch weh zu tun, doch das war mir egal. Alles war meine Schuld, hätte ich blos den Clampitts Bescheid gesagt.

Als ich endlich bei den Clampitts ankam, riefen sie sofort einen Krankenwagen und Nancy wurde mit Blaulicht in Krankenhaus gefahren. Ihre Eltern fuhren mit und ich saß bei Arthur am Küchentisch und trank Tee mit ihm. „Hatten Sie es gewusst?” Ich schaute ihn nicht an. „Natürlich.” Seine Stimme klang schwer und traurig. Auf einmal wurde ich zornig. „Warum haben Sie und dann diesen Blödsinn von wegen das Böse zurück in die Eierschale verbannen erzählt? Wieso haben Sie nicht auf sie aufgepasst? Sie sind ein Erwachsener, es ist ihre Pflicht auf zu passen! Wie konnten sie so verantwortungslos sein? Das ist alles ihre Schuld!” Ich wollte ihn eigentlich nicht anschreien. Ich mochte Arthur, doch ich konnte sein Verhalten einfach nicht verstehen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Auch wenn ich mich jetzt dafür schäme, tat es gut, die Schuld auf ihn abzuwälzen. Mir selbst einzureden, mich treffe keine Schuld. Auf meine Fragen lächelte Arthur nur. Ein Lächeln schien seine Antwort auf alles zu sein. Dies war ein trauriges und müdes Lächeln. Müde auf eine Art, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Ungefähr 10 Minuten später kam der Anruf. Nancy war tot. Das Gift war schon zu weit im Körper verbreitet, als dass man ihr noch helfen hätte können. Ich verließ Arthurs Haus und wechselte danach bis zu seinem Tod nie wieder ein Wort mit ihm. Nicht weil ich wütend war, sondern, weil ich mich für die Anschuldigungen, die ich ihm an den Kopf geworfen hatte, schämte. Wir tauschten aber noch oft Blicke aus, wenn wir uns auf der Straße begegneten. Sein Blick verriet mir, dass er mir längst verziehen hatte. Nancys Geschichte machte natürlich die Runde in Plymouth. Bald schon hörte ich ihren Namen überall. Das war natürlich gefundenes Fressen für die Nachbarn und bald schon hieß es, dass ein gewisser Grad an Seltsamkeit wohl bei den Clampitts in der Familie lag. Meine Mutter wollte mich auf ein Jungeninternat nach Wales schicken. Dieses Angebot nahm ich dankend an, da es bedeutete, dass ich diesen grässlichen Ort, der voller Tratsch war, vorübergehend verlassen konnte.

Meine Mutter sagte immer, dass Freundschaften ein Leben verändern können. Ich hatte ihr nicht geglaubt, aber genau das hatte Nancy getan. Ich kannte sie nur ca. zwei Monate lang, aber sie hat mein Leben verändert wie sonst noch keine Person. Und, obwohl ich mir nach ihrem Tod eingeredet hatte, nie irgendwelche Monster gesehen zu haben, war ich mir jetzt nicht mehr sicher, denn ich hätte schwören können, dass ich wirklich beinahe Tee mit dem Tod getrunken hätte. Nancy hatte mir die Wichtigkeit von Freundschaft vor Augen geführt und mir somit Dinge beigebracht, von denen ich nicht dachte, dass ich sie nochmal erlernen würde.

Autorin: Matilda Kaya, 8d

Beitragsbild: https://publicdomainvectors.org/photos/quill-paper-vector-pdv.jpg

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